Oma Hansen.
Als ich seinerzeit in der Prignitz ankam, war ich nicht unbedingt begeistert von dem Hof. Er war viel zu groß, aber um der Liebe Willen ließ ich jemand anderes entscheiden. Was man nicht alles für die Liebe tut.
Schon nicht allzu lange später war die Liebe aus und ich hatte das Haus. Da stand ich nun vor dem Scheunentor und schaute in den Garten. Es war kein Garten, es war eine Unendlichkeit an Fläche und Wildnis. 1,5 Hektar Land. Gott sei Dank war ein Teil davon an die hiesige Agrargenossenschaft verpachtet. Aber trotzdem war der Rest meines Landes immer noch "viel,viel" zu groß. Schafe.... sagte meine Mutter. Mit einem Seufzer drehte ich mich um und wollte gerade zurückgehen, als ich ein Gartenhacken hört. Ich ging zum Grundstückszaun und schaute in den Nachbargarten. Da stand Oma Hansen in ihren Gurken und hackte Unkraut. Jetzt hatte sie mitbekommen, dass da ein Neuer war. Wir grüßten uns freundlich und eine wunderbare Freundschaft zu einer hochintelligenten und sehr feinen Frau entstand. Sie war eine "echte" Prignitzer Bäuerin. Die ordentlich den Garten pflegt, samstags immer zum Friedhof geht und an den Sonntagen zur Predigt. Eine Frau, die pünktlich den Bäckerwagen erwartet und immer als erste die Tomaten vorgezogen hat. Ich, obwohl ich Landschaftsgärtner bin, habe das in meinem ganzen Leben nicht hinbekommen.
In der Folgezeit stellte sich heraus, dass diese alte Dame der beste Gartenratgeber für die oft sehr trockenen und heißen Sommer der Prignitz war. Ich kaufte mir seinerzeit das "beste" Biogartenbuch. Daraus stellte ich mir eine Liste aller schneckenresistenten Pflanzen zusammen und kaufte für wahnsinnige 600 Euro ein. Geld, was mir heute, wenn ich in der Prignitz mittlerweile den kalten Wind der Armut am eigenen Leib erfahren habe, wahnsinnig viel erscheint. Eine Nacht nach meiner Pflanzung konnte ich es gar nicht fassen. Alle Pflanzen waren weg.
Oma Hansen sammelte Schnecken mit einem Stock, wo unten ein kleines Messerchen befestigt war und stocherte alle ab, und sammelte sie dann in einem kleinen Eimerchen den Sie mit sich trug. Sie nahm im Hof auch ab und an Schneckenkorn. Aber wenig, das war zu teuer. Was ich mutig auch nahm. Wobei ich echt sauer war auf die Schnecken, daher streute ich Schneckenkorn wie Streusalz. Am nächsten Morgen stand der Hof voll mit Schneckenfleisch.
Und nun hatte ich wieder Mut gefasst, im Garten loszulegen. Wenn die alte Dame von 87 es schafft, den Garten umzugraben, dann schafffst du als gelernter Landschaftsgärtner das erst recht..Irgendwann hatte sie mitbekommen, dass ich im Spätsommer Geburtstag habe. Sie kam daraufhin dreimal im Jahr, um mir zu gratulieren. Da war sie doch schon etwas tüttelig. Aber sie brachte immer ein Blumensträußchen aus ihrem Garten und ein Schnäpschen. Etwas was ich gar nicht so gerne trinke. Ihre Tochter half mir, dass ich meinen Wunsch, nicht mehr zu rauchen, eher aufgab als mir lieb war. Aber der nette Schnack mit Ute war halt immer mit ner Freundschaftszigarette verbunden.
Einmal war ich auch ganz verzweifelt und schaute auf die trockene Steppe meines Gartens, in einer Zeit, wo es mal wieder nicht regnen wollte. Alles verdurstete, man konnte machen, was man wollte. Das war so ein Moment, wo ich als Gärtner aufgeben wollte. Dann ging ich immer zu Oma Hansen und fragte sie, ob sie ihren Gemüsegarten gießen würde. "Nö", war die Antwort. "Wenn das eine wächst, dann gibts halt in dem einen Jahr mehr Gurken, in dem anderen mehr Salat".
Die Geschichte passierte in der Mitte der achtziger Jahre an der B5 in der Nähe von Quitzow. Ein Handwerker, der schon einmal gerne über den Durst trank, hatte ein paar schöne Stunden auf einem Feuerwehrfest:
Glücklich beseelt fiel ich aus der Kneipe. Frische Luft schnappen.Uff, tat das gut. Ein paar Schritte laufen. Eigentlich könnte ich ja schon nach Hause gehen. Noch ein Körnchen, noch ein Bierchen und dann ging es los. Ganz geradeaus ging es schon nicht mehr, eher in dieser Schlängelvariante, die doch meist zum Ziel führt. In mein warmes kuscheliges Bett. Aber heute sollte etwas ganz anderes passieren. Es war ein schöner Frühsommerabend in meiner Prignitz. Ich lief los und schwankte bis zur B5. Dort wo auch die Bushaltestelle ist. Jetzt brauchte ich aber eine Pause. Und eigentlich wollte ich nur noch schlafen. Hm, das letzte Körnchen war wohl doch zu viel gewesen. Uff, da stand ich nun und döste an dieser besagten Bushaltestelle beseelt vor mich hin.
Plötzlich hielt ein Auto. "Los einsteigen, wir nehmen dich mit". Gott sei Dank, nicht mehr stehen, sitzen, das tat gut. Und vielleicht sogar doch eher liegen und so rutschte ich zwischen die Sitze und schlief fest ein. Einige Stunden später wurde ich grob geweckt.
"Wir sind da. Zahlen!"
"Wie bitte, zahlen wofür?"
"Na, Sie sind im Westen."
"Wie bitte, wo bin ich?"
"Charlottenburg, wir haben es geschafft."
Oh Gott, jetzt war ich hellwach. "Ich will nicht in den Westen."
"Sie wollten fliehen und jetzt wollen wir das Geld."
"Oh nein, ich habe erstens kein Geld und zum zweiten will ich nach Hause zu meiner Frau und meinen Kindern."
Sie haben mich verwechselt. Ich war der falsche Flüchtling. So schnell ich konnte, gings zurück zur Grenze. Ich bin aus Versehen geflohen, erklärte ich den Grenzern der DDR. "Aus Versehen geflohen, na dann kommen Sie mal mit". Meine Familie sah ich erst zwei Jahre später. Der Knast war echt nicht prickelnd und ein Feuerwehrfest kann auch Gefahren bergen, das habe ich gelernt. Fröhliche Weihnachten Neue Prignitz. Danke, dass ich diese Geschichte erzählen konnte.
Die heute fast 90jährige Frau S. aus Tangendorf erzählte mir noch ihre Geschichte vom Wunderheiler in Preddöhl. Sie war damals etwa 16 Jahre alt:
Ich wohnte mit meinem Vater in einer kleinen Hofwirtschaft. Es war 1936, noch vor dem Krieg. Wir hatten nur ein paar Kühe und Hühner und drei Pferde. Als ich eines Tages im Sommer von der Feldarbeit nach Hause kam, rief mich mein Vater sehr aufgeregt in den Pferdestall. Als ich dort ankam, lag ein Pferd am Boden und konnte nicht mehr aufstehen. Und auch die andern Pferde schienen krank zu sein. Oh, wie aufgeregt war ich damals. Die Pferde waren doch das Wertvollste, was wir hatten. Oh mein Gott, was sollten wir tun? Mein Vater rief die Tierärztin. Diese untersuchte die Pferde und meinte nur, dass die Pferde verloren seien, sie seien schwer krank und würden die kommenden Tage nicht überleben. Das war ein harter Schlag für meinen Vater. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie schlecht es uns in der Nacht ging. Am nächsten Morgen liefen wir sofort zum Stall und schauten nach den Pferden. Und die Ärztin hatte recht. Das zweite Pferd lag auch schon krank am Boden. Wir standen beide dort und wussten nicht, was wir machen sollten. Die Pferde fraßen und tranken auch nichts mehr.
Da meinte mein Vater zu mir, Edelgard, mach schnell, nimm dein Fahrrad und fahre zu dem Wunderdoktor nach Preddöhl. Denn Telefon gab es noch nicht. Das kam bei mir eh erst nach der Wende 60Jahre
später. Vielleicht kann er uns helfen. Es war von Tangendorf nach Preddöhl ein weiter Weg. Als ich schließlich an der schönen pikfeinen Villa ankam, waren da sehr viele Leute. Am Eingang waren so
zwei kleine Türmchen, eine feine Rasenfläche und ein großes Wasserbecken vor der Villa. rechts und links führte ein gepflegter Weg zum Haus. Auf weißen Parkbänken saßen elegant gekleidete
Herrschaften. Sie schauten mich etwas befremdet an, da ich direkt ohne mich umzuziehen auf den Weg gemacht hatte. Ich hatte auch großen Hunger und Durst. Ich war ja noch nie vorher in Preddöhl
gewesen. Und selbst mein Vater hatte nie die Zeit gehabt, nach Preddöhl zu fahren. Damals gab es keine Freizeit. Das Vieh musste immer gefüttert werden. Ich musste auch oft die Schule vor lauter
Arbeit ausfallen lassen. Im Winter war es immer sehr verschneit und man hatte auch nur Arbeit.
Ich rannte an den Leuten vorbei und stürzte in die Villa. Eine Frau empfing mich freundlich und sah, wie aufgeregt ich war. Der berühmte Doktor konnte mich nicht sofort dran nehmen, weil jemand
anderes vor mir war. Ich bekam einen Tee und weil die Dame des Hauses anscheind sah, dass ich Hunger hatte, wurde mir sogar eine Scheibe Brot gebracht. Kaum war der Tee leer, so durfte ich schon
in das Sprechzimmer, wo der Doktor saß. Ich war so aufgeregt, dass ich sofort los reden wollte. Doch er meinte nur, "Ich weiß schon, Kind." "Aber..." Er unterbrach mich wieder und sagte nur mit
ganz ruhiger entspannter Stimme. "Ich weiß, deinen Pferden geht es schlecht, aber mach dir keine Sorgen, fahr ruhig wieder nach Hause. Es ist alles wieder in Ordnung. Du brauchst dir keine Sorge
zu machen". Ich frage mich noch heute, woher er dies alles wusste. Und ich konnte es auch nicht glauben. Ich wollte ihm dann noch etwas Geld für die Sitzung da lassen. Aber er lehnte nur ab und
sagte, es ist schon gut .
Verwirrt fuhr ich wieder den langen Weg nach Tangendorf zurück. Als ich nach Hause kam, stand mein Vater glücklich vor dem Haus und erwartete mich schon. Er sagte nur, "Als du wegfuhrst, kurz darauf fing das eine kranke Pferd wieder an zu trinken. Und dann auch das andere. Ich denke, denen wird es morgen wieder gut gehen. Woher der Wunderheiler von Preddöhl das alles wusste und wieso das so war, weiss ich bis heute nicht, aber so habe ich es erlebt.
Frau S. aus Tangendorf erzählte die Geschichte zwei Wochen vor ihrem Schlaganfall. Heute kann sie die Geschichte nicht mehr erzählen. Wir, die Neue Prignitzer Onlinezeitung, sind froh, dass wir dieses Interview mit ihr noch führen konnten. Daher Ihr alten Prignitzer, erzählt uns Eure Geschichten, es wäre zu schade, sie für immer zu verlieren.
Die Bilder, die Sie oben sehen, stammen aus Neuhausen bei Berge. Das erste Bild zeigt den Gutsbesitzer mit seinen Arbeitern beim Erntefest in der Schlosskapelle. Das nächste zeigt die Kinder beim Erntefest. Ein gefallener alter Freund. Luftschutzübung in Neuhausen 1945. Meine beste Freundin. Gefallener Bruder. Vater auf unserem Hof.....
Eine alte "Prignitzerin" berichtet
Frau P. geboren bei Breslau 1929
Sie verbrachte ihre Kindheit friedlich auf einem großen Gehöft südlich von Breslau im heutigen Polen. Es gab Hausangestellte und sie hatte sogar ein eigenes Pferd.
Ihre Mutter verstarb sehr früh, noch vor dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Tante kümmerte sich daraufhin um die Erziehung der vier Kinder. Ihr Vater musste im Krieg kämpfen und starb auf dem Schlachtfeld. Im Frühjahr 1945, als die Russen ihr Dorf einnahmen, hatte sie in einem Dorf ausserhalb von Breslau lebend, nur zwei Stunden Zeit, um ihre Sachen zu packen, bevor sie sich auf die Flucht nach Westen machte. Zu diesem Zeitpunkt war ihre Tante nicht im Haus, da sie Angehörige weiter weg besuchte. Auch die Angestellten flüchteten in einem kopflosen Durcheinander, so dass sie sich mit ihren 16 Jahren allein zu Fuß auf den langen Marsch machte. Mit einem kleinen Leiterwagen und ihren drei jüngeren Geschwistern zog sie auf den Landstraßen in einer endlosen Kolonne durch tiefen Schnee. Am Straßenrand lagen gefallene Soldaten. Ab und an wurden sie aus der Luft angegriffen. Nachts übernachteten sie in verlassenen zerstörten Gehöften.
Schließlich wurden sie von der russischen Armee in Viehwaggons gepfercht und weiter transportiert, ohne zu wissen, wo es hinging. Nach einer langen Reise wurden die Türen des Waggons aufgerissen und Gruppen von Leuten einfach rausgeworfen. Irgendwo auf freiem Feld, in der Nähe von Berge, mit ihren Geschwistern. Die Flüchtlinge versuchten nun irgendwo unterzukommen. Der Empfang in der Prignitz war alles andere als freundlich. Niemand wollte die Flüchtlinge aufnehmen. Niemand hatte genug zu essen geschweige denn für Flüchtlinge. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ein kleines Zimmer auf einem Dachboden bei einem Bauern beziehen durfte. Von Anfang an musste sie dann hart auf einem Gehöft mitarbeiten.
Die 50er Jahre
Im Verlaufe der kommenden Jahre schaffte sie es, eine gute Ausbildung zu bekommen. Sie arbeitete als Angestellte in einer LPG. Ihren Mann lernte sie hier in der Prignitz kennen. Er betrieb einen Getreidehandel mit seiner Familie. Da es zu jener Zeit wenige Industriemaschinen gab, hatten sie in der Anfangszeit ein gutes Auskommen. Nach der Verstaatlichung ihres Betriebes konnte sie mit ihrem Mann im Betrieb verbleiben.
60er – 80er Jahre
Für sie verliefen diese Jahre friedlich, man hatte sein Auskommen und keine größeren Sorgen, da alles staatlich reguliert wurde. Ihre Familie vergrößerte sich und heute ist sie stolz auf ihre Enkelkinder, die in den alten Bundesländern leider nur in einfacher Montageanstellung hart arbeiten müssen. Die DDR Abschlüsse wurden leider nicht anerkannt, so dass sie sich als Handwerker durchschlagen. Die ersten Jahre pendelten sie noch zwischen der Prignitz und Nordrhein-Westphalen. Seit einigen Jahren kommen sie nur noch sehr selten. Ihr Mann ist schon lange verstorben.
heute
- Man merkt, dass die Dame ursprünglich aus einem vornehmen Haushalt stammt. Sie achtet sehr auf eine gründliche akkurate Pflege. Nur Pflegeschwestern dürfen sie waschen
- Sie spricht ungern über die Zeit des Krieges
- Sie hat bis heute kein gutes Verhältnis zu den Polen, die ihr ihre Heimat nahmen.
- In der Prignitz fühlt sie sich wohl, wobei sie eine gewisse reservierte Haltung zu den Hiesigen beibehalten hat. Die meisten Familien ihrer Generation sind eine Mischung aus Urprignitzern und Flüchtlingen. Der etwas verschlossene Charakterzug vieler älterer Prignitzer beruhte auf der wirren Geschichte der Nachkriegsjahre und der Enteignungsphase in der frühen Zeit der DDR. Aber auch die Wendezeit hat viele negative Spuren im Empfinden der Menschen hinterlassen. Die großen Betriebe wurden teilweise bösartig zerschlagen und bis heute ist hier kein wirklich neues wirtschaftliches Leben entstanden.
„Ich weiß noch, wie in Wittenberge morgens die Arbeiter zu tausenden in die großen Fabriken zogen. Die Wende hat unser Land verbluten lassen. Wir sterben nur noch, das war’s. Und die Politiker kümmern sich um nichts außer um sich selbst. Keiner hat eine Idee für unser Land. Sie sehen doch die toten EU geförderten Projekte. Nach den Baumaßnahmen stehen sie meist leer und keiner bewirtschaftet sie. Die Prignitz ist zu weit vom Schuss. Die werden uns noch alle zu Tode pflegen und dann war’s das. Dann sind auch noch die Arbeitsplätze weg. Und alles wird den Industrieagrarbetrieben überlassen.“
"Für mich ist soweit alles in Ordnung, ich werde versorgt und mein Brot liegt auf dem Tisch. Mehr ist es nicht. Sie sehen ja, mein Dach ist kaputt, das wird wohl niemand mehr reparieren, früher half man sich noch gegenseitig. Heute ist jeder nur noch damit beschäftigt „sein“ Geld zusammen zu halten. Neid und Geiz gehören heute zu vielen Menschen, die hier leben. Aber wir haben ja wirklich nichts mehr außer Hartz IV und Sie (Tobias Schweitzer) als Pflegekraft. Ich bin froh, dass es meinen Kindern in Stuttgart gut geht, wobei sie haben sich auch sehr verändert. Sie sind mit ihrer Karriere beschäftigt. Dies ist auch eine gewisse kapitalistische Krankheit. Es ist egal, ob man am Existenzminimum dahinvegetiert oder nur Kohle scheffeln will, der Mensch zählt doch heute nicht mehr. Sehen Sie, doch Sie betreuen mich und erzählen mir Geschichten. Dies nicht, weil ich Ihnen als Mensch besonders wertvoll bin, sondern es ist ihr bezahlter Job. Ich bin wirklich sehr froh, dass Sie sich mit mir unterhalten, es tut mir sehr gut, und es ist auch gut, dass es von der Krankenkasse bezahlt wird, aber wenn wir ehrlich sind, ist es traurig, dass unsere Zivilisation es nicht geschafft hat, den Familien in ihrer Heimat ein gemeinschaftliches Leben zu ermöglichen. Das war in meiner Kindheit schöner, wir lebten alle zusammmen auf einem Hof. Meine Eltern, Großeltern und Geschwister. Und auch die Zeit der DDR gab uns zwar keine Reichtümer, aber wir waren zufrieden und konnten als Familie zusammenleben. Heute schaue ich allein aus dem Fenster und warte auf Sie jeden Donnerstag und freue mich, wenn ich Ihnen einen Kaffe kochen darf.“
Meine Kindheit verbrachte ich in Westpreußen bei Danzig. Als der Krieg zu Ende ging, war ich 7 Jahre alt. Wir lebten damals auf einem Gut. Es war ein schönes Haus. Wir hatten ein Herrenzimmer, das mit sehr schönen alten Möbeln ausgestattet war. Ich brauchte mir eigentlich um nichts Sorgen zu machen. Als Hitler damals "Heim ins Reich brüllte", zog einer meiner Onkel in die Prignitz. Meine Familie lebte friedlich auf dem Land. Der Krieg war weit weg. Auch mein Vater musste aufgrund des großen Gutes nicht in den Krieg ziehen. Als dann dort die Front immer näher rückte, konnten wir uns einfach nicht vorstellen, dass jemals der Russe bei uns sein könnte. Eines Tages mitten im Winter war es dann doch soweit. Jemand kam auf den Hof gerannt und rief, der Russe ist da und wir hörten die Bomben und Grananten. Schnell packten wir unsere Sachen und flüchteten zu einem Förster in den umliegenden Wäldern. Wir hatten nur zwei Stunden Zeit. Zunächst dachten wir, es wäre einfach ein Vorpreschen der Russen, die jedoch von unseren Soldaten wieder zurück gedränkt würden. Doch schon nach ein paar Tagen verriet man unser Versteck und wir wurden alle zu unserem Gut zurückgeführt. Mein Vater wurde von den Russen abgeholt. Ich erinnere mich noch heute an das Bild, wie er abgeführt wurde. So wie er von dem Hof ging. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah, ich weiß noch heute, es war der siebte.
Meine Mutter und ich durften zunächst ins Herrenzimmer. Die meisten Möbel und Sachen waren schon längst geplündert worden. Man hatte uns bewusst zunächst hier recht vernünftig untergebracht. Die Polen dachten, wir würden nun unter dem Fussboden liegende Schätze hervorholen, die wir aber eh nicht hatten. Nach ein, zwei Tagen kamen wir dann in eines unserer Arbeiterhäuschen. Und gleichzeitig kamen immer mehr Flüchtlinge aus Ostpreußen auf unseren Hof. Wir wurden alle in dem kleinen Arbeiterhaus untergebracht. Und auch hier erinnere ich mich noch bis heute daran, wie wir jeden Tag nur einmal einen Teller mit gekochten Steckrüben mit Wasser bekamen. Jeden Tag wurden Leichen aus dem Haus getragen und abtransportiert. Dass ich das überlebt habe, wundert mich noch heute.
Eines Tages durften wir gehen. Da unser Onkel hier in der Prignitz bei Baek auf einem Hof seit 1939 lebte, gingen wir dort hin. Und dort traf ich meine gesamte Verwandschaft, denn alle hatten gewusst, dass er dort lebte. Und er war der Einzige, der im Westen gelebt hatte.
Heute bin ich froh, dass aus meinen Kindern und Enkeln so tolle Menschen geworden sind. Ich bin auch froh, dass ich meinen Mann hier getroffen und lieben gelernt habe. Die Prignitz ist heute meine Heimat. Ich bin nie wieder zurück gegangen. man hat mir aber erzählt, dass es das Gut nicht mehr gibt. Nur noch Ruinen.
Ich kam in die Prignitz als Flüchtling...
Wenn an Sonn- und Feiertagen die Kehrberger Kirchenglocke ertönt, dann gebührt einer Familie ein ganz besonderer Dank. Es ist die Familie Mascher, die sich 1940 dafür einsetzte, daß die Kehrberger Glocke nicht Kriegszwecken zum Opfer fiel. Im Vorraum der Kirche befindet sich eine Dauerausstellung zu diesem Thema. Pfarrer August Eduard Mascher und seine Frau beugten sich nicht der Anordnung zur Generalerfassung der Kirchenglocken. Daraufhin erschien die Gestapo im Pfarrhaus und nahmen den Pfarrer mit. Das große Verdienst Martha Maschers war es dann, dass sie sich im Juni 1940 mit einem Schreiben an das katholische Dompfarramt in Erfurt wandte und ihrem Brief das Pergament mit der abgepausten Glockeninschrift beifügte. Das Antwortschreiben aus Erfurt löste im Pfarrhaus Freude aus. Der damalige Probst teilte mit, er werde gegenüber den zuständigen Behörden bestätigen, daß die Kirchenglocke von Kehrberg auf Grund ihrer Inschrift in germanischer Runenschrift einen außerordentlichen hohen Altertumswert besitzt. Damit hatte Pfarrer August Mascher einen Trumpf in der Hand und die Gestapo mußte ihn wieder auf freien Fuß setzen, sie wurde in die Kategorie D eingestuft und damit zur ;besonderen Verfügung; zurückgestellt. Die Runenzeichen der Kehrberger Glocke sind von der gleichen Art wie die der berühmten "Gloriosa" im Erfurter Dom. Somit ist es möglich, dass derselbe Glockengießer, nämlich Gerhard de Wou aus Kempen, der im Jahre 1497 auf dem Erfurter Domberg den Guß der größten freischwingenden Glocke vollendete, beim Umherziehen durch die Lande womöglich auch vor der Kirche in Kehrberg sein Feuerlager aufgeschlagen hat, um hier eine " kleine Schwester" der einzigartigen "Gloriosa" wie im Erfurter Dom zu formen. Den Mut den die ganze Familie Mascher in ihrer eigenen Bedrohung erbrachte, gebührt noch heute ein ganz besonderer Dank. Mit der Glockenchronik wollen wir diesen tapferen Einsatz nicht in Vergessenheit geraten lassen. www.kirche-kehrberg.de